Zukunft der Landwirtschaft im Fokus
Anfang Juni 2025 nahm eine internationale Gruppe von Agrarjournalisten auf Einladung des European Network of Agricultural Journalists (ENAJ) an einer dreitägigen Pressereise in Belgien teil. Unter dem Titel „Exploring Europe’s Vision for Agriculture and Food“ standen intensive Gespräche in Brüssel sowie Exkursionen zu landwirtschaftlichen Betrieben im Mittelpunkt. In Deutschland wurde die Reise durch den VDAJ kommuniziert – ein wertvoller Beitrag zur internationalen Vernetzung und zum professionellen Austausch innerhalb des Agrarjournalismus.
Soil Capital: Privatwirtschaftliche Klimastrategien für die Landwirtschaft
Einen spannenden Einblick in zukunftsfähige Betriebsmodelle bot der Besuch bei Soil Capital, einem belgischen Beratungsunternehmen für regenerative Landwirtschaft. Über 1.900 Betriebe erhalten hier Hilfe bei der Erfassung und Verbesserung ihrer CO₂-Bilanz – zertifiziert und geprüft u. a. vom TÜV. Die teilnehmenden Landwirte erhalten bis zu 70% der Erlöse aus dem Verkauf von CO₂-Zertifikaten an Unternehmen wie Cargill, Mars, Nestlé oder Bonduelle, die damit Verantwortung für ihre Lieferketten übernehmen und aktiv in den Klimaschutz vor Ort investieren.
Das Modell basiert auf konkreten Daten zu Düngung, Fruchtfolge, Bodenbearbeitung und Humusaufbau. Besonders bemerkenswert: Fast jeder Betrieb kann teilnehmen und profitieren. Das zeigt: Klimaschutz kann wirtschaftlich attraktiv gestaltet werden.
EU-Agrarpolitik im Wandel: Herausforderungen und Perspektiven
Im Austausch mit EU-Agrarkommissar Christophe Hansen sowie Vertretern der Generaldirektionen Landwirtschaft (AGRI), Handel (TRADE) und Kommunikation (COMM) wurde deutlich: Europas Landwirtschaft steht unter hohem Anpassungsdruck – durch den Klimawandel, verändertes Verbraucherverhalten, rückläufige Tierzahlen und geopolitische Spannungen. Hansen warb für eine vereinfachte und praxisnahe Agrarpolitik: Ein erstes Maßnahmenpaket habe rund 210 Mio. € an Verwaltungskosten eingespart, ein weiteres sei in Vorbereitung.
Auch Fragen des internationalen Handels spielten eine zentrale Rolle: Die EU wolle neue Märkte erschließen, etwa durch Abkommen mit Mercosur oder der Ukraine, dabei aber hohe Standards und faire Wettbewerbsbedingungen wahren. Ziel sei eine größere Eigenständigkeit in der Lebensmittelversorgung – insbesondere bei Eiweißpflanzen und Ölsaaten.
Kritische Punkte wie die Umsetzung der Entwaldungsverordnung (EUDR) wurden offen angesprochen. In der Diskussion wurde deutlich, dass viele Maßnahmen zwar gut gemeint sind, in der Praxis jedoch besser auf die Bedürfnisse von Landwirten abgestimmt werden müssen – etwa bei der Entwicklung einer praktikablen Regulierung der neuen Züchtungstechniken. Hier wünschten sich viele Beteiligte mehr Planungssicherheit und ein innovationsfreundliches Umfeld.
Zwischen Green Deal und Feldrealität: Nachhaltigkeit braucht Planungssicherheit
Beim Besuch eines auf Chicorée und Süßkartoffeln spezialisierten Betriebs, der an BelOrta, belgische Vermarktungsgenossenschaft für Obst und Gemüse, liefert, wurde deutlich, wie sehr nachhaltige Landwirtschaft auf stabile Rahmenbedingungen angewiesen ist. Zwischenfrüchte, Kompost, mechanische Unkrautbekämpfung und ein sehr reduzierter Pflanzenschutzeinsatz gehören hier zum Alltag – jedoch nur, weil der Betrieb gezielt investiert hat und über funktionierende Absatzstrukturen verfügt.
Landwirt Sam Magnus betonte, dass der weitgehende Verzicht auf Insektizide für ihn möglich sei – doch politische Kurzfristigkeit erschwere langfristige Investitionen. Wer auf regenerative Verfahren umstellt, brauche Planungssicherheit und klare Perspektiven. Andernfalls drohten gut gemeinte Strategien an der Realität zu scheitern.
Praxisbeispiel Belgian Blue: Rindermast im Spannungsfeld von Politik und Markt
Letzte Station war der Familienbetrieb von Joris Claeys westlich von Brüssel. Mit rund 100 ha Fläche und Spezialisierung auf die Rinderrasse Belgian Blue steht der Betrieb exemplarisch für eine enge Verknüpfung von Haltung, Fütterung und Kreislaufwirtschaft. Zwischenfrüchte fördern den Humusaufbau, Kälberaufzucht erfolgt muttergebunden, die Fütterung kombiniert Eigenleistung mit gezielten Zukäufen – insbesondere bei Soja.
Trotz aktuell guter Erlöse bleibt das System anfällig: Steigende Auflagen, unsichere Märkte und hohe Investitionsrisiken belasten die Planungssicherheit. Die Gespräche mit Claeys zeigten deutlich, wie stark politische Vorgaben das betriebliche Management beeinflussen – und wie wichtig praxistaugliche Lösungen sind.
Fazit:
Visionen treffen auf Realität – und genau dort muss Europas Landwirtschaft bestehen. Die ENAJ-Pressereise zeigte eindrucksvoll, wie wichtig der kontinuierliche Dialog zwischen EU-Institutionen und landwirtschaftlicher Praxis ist, wenn Nachhaltigkeit, Ernährungssicherheit und Wirtschaftlichkeit zusammengedacht werden sollen. Europas Landwirtschaft steht vor grundlegenden Weichenstellungen – tragfähige Lösungen müssen politisch klug und zugleich praxisnah gestaltet sein, damit sie auch auf dem Acker funktionieren. Der Agrarjournalismus leistet dabei einen wichtigen Beitrag zur Meinungsbildung und internationaler Kooperation.
Dr. Illya Kolba, Referent Presse- und Öffentlichkeitsarbeit beim OVID Verband der ölsaatenverarbeitenden Industrie in Deutschland und VDAJ-Mitglied (Landesgruppe Berlin)