
Wer in Gießen Tiermedizin studieren möchte, braucht nicht unbedingt ein Einser-Abitur. Gefragt ist jedoch ein langer Atem. Dem ersten leibhaftigen Tier stehen die Studenten oft erst im 5. Semester gegenüber. Nach dem Studium sind den Jungveterinären Hund und Katze oft lieber als Huhn und Schwein.
Die tierärztliche Fakultät an der Justus-Liebig-Universität in Gießen hat keine Nachwuchssorgen. Auf 210 Studienplätze kommen jedes Jahr etwa 1.100 Bewerber. Eine Regelstudienzeit von elf Semestern, ein sehr „verschulter“, gesetzlich festgelegter Lehrplan, viele Prüfungen und ein voll durchgeplantes Semester sind jedoch hohe Hürden, um bis zum Ende durchzuhalten.
„Erste praktische Tierkontakte erleben die angehenden Tiermediziner erst ab dem 5. Semester“, sagt Prof. Dr. Axel Wehrend, Fachtierarzt für Reproduktionsmedizin und Klinikumsdirektor. Das könne frustrierend sein. Wie er dieses Dilemma versucht zu umgehen, erläuterte Wehrend den Mitgliedern der VDAJ-Landesgruppe Hessen/Rheinland-Pfalz/Saarland, die der Universität einen Besuch abstatteten. „Wir bieten beispielsweise Dienstleistungen für Tierhalter immer in Verbindung zur Lehre an, bei jeder Behandlung sind in der Regel auch Studenten dabei.“ Dienstleistungen für die landwirtschaftliche Nutztierhaltung sind beispielsweise die Diagnostik, Therapie und Prävention von Fruchtbarkeitsstörungen, Eutererkrankungen, Milchabflussstörungen, Schwergeburten und Neugeborenenerkrankungen. In der tierärztlichen Ambulanz fahren drei Tierärzte zu den Tierhaltern raus, Studenten sind auch dort immer mit dabei.
Dummy-Medizin
Auch die Schließung des Schlachthofes in Gießen vor einigen Jahren hat die praktischen Übungen am Tier für die Studenten erheblich eingeschränkt. „Früher konnten die Studierenden an echten Organen üben, heutzutage müssen wir uns da was einfallen lassen“, so Wehrend. Ein präpariertes Kalb, das aus einer Plastikwanne „entbunden“ wird und totgeborene präparierte Kälber, die für Übungen der Geburtshilfe verwendet werden, sollen die Studenten auf den Ernstfall vorbereiten. Kurse für Geburtshilfe bietet Wehrend auch für Landwirte an.
Tiergesundheitsdienste in Hessen
Weiterhin bietet die Klinik in Zusammenarbeit mit dem Landesbetrieb Hessisches Landeslabor (LHL) Tiergesundheitsdienste an. Finanziert werden diese größtenteils durch die Hessische Tierseuchenkasse und das Land Hessen, einen Teil der Kosten müssen die Landwirte selbst tragen. „Das ist ein Problem“, weiß Wehrend, „viele Landwirte wollen oder können das Angebot wegen der Kosten nicht in Anspruch nehmen.“ Dabei ist Wehrend überzeugt vom Nutzen der Tiergesundheitsdienste. „Jemand von außen kommt in den Betrieb rein, schaut sich unbefangen die Probleme des Betriebes an und sucht gemeinsam mit dem Landwirt nach Lösungen.“ Er plädiert für neue Strukturen und Leistungsangebote, um die Zahlungsbereitschaft der Landwirte zu verbessern. Die gute Akzeptanz der Tiergesundheitsdienste für Schwein und Geflügel zeigten, dass durchaus eine Nachfrage bestehe.
Forschen nach dem optimalen Kolostrum
Neben der Lehre und den Dienstleistungen wird in der Veterinärklinik auch Forschung betrieben. Ein Projekt unter der Leitung von Wehrend befasst sich mit dem Thema Kolostrum. In einem Versuch wird geprüft, ob sich Paratuberkulose, die von der Mutter auf das Kalb über die Biestmilch übertragen werden kann, mit einer Pasteurisierung des Kolostrums verhindert lässt. Das Problem: Bei der Pasteurisierung werden neben den Erregern auch Abwehrstoffe negativ beeinflusst. Dieses Problem will man lösen.
Die Bauern fehlen
Der Fachbereich Veterinärmedizin der Justus-Liebig-Universität ist mit gut 1.500 Studenten die drittgrößte der insgesamt fünf tierärztlichen Hochschulen in Deutschland. Eine Besonderheit ist die räumliche Nähe der Humanmedizin. Die Lehre rückt hier zusammen, ein Vorteil. Nachteilig ist die zentrale Lage der Universität mitten in der Stadt. Bauliche Erweiterungen sind schwierig, die Entsorgung von Abwasser und Mist problematisch. Auch fehlt Gießen im Vergleich zu den Universitäten in Leipzig, Hannover oder Berlin das landwirtschaftliche Umfeld mit hohen Tierzahlen und dem Bezug zur Praxis.
Stärker ausgeprägt ist der Klinikbereich, der für alle Tierarten offensteht. Ein Schwerpunkt ist die Fortpflanzungsmedizin. Immer häufiger kommen kleine Wiederkäuer als Patienten in die Tierklinik. Für Prof. Wehrend sind sie ideale Patienten für die Lehre. Für die Intensivbehandlung von Welpen stehen ebenfalls Räumlichkeiten zur Verfügung. Ohnehin streben die meisten Absolventen in den Kleintierbereich, nur ein Drittel wendet sich den Nutztieren zu. Weil Angebot und Nachfrage den Preis bestimmen, verdienen junge Veterinärmediziner in den Großtierpraxen heute in der Regel mehr als ihre „Kleintierkollegen“.
Jennifer Krämer