Ukrainekonflikt: Dramatische Folgen für die Landwirtschaft

Iurii Der Ukrainekonflikt beherrscht seit Monaten die Medien, doch wie es vor Ort wirklich aussieht, ist ungewiss. Im Interview mit dem VDAJIntern beschreibt Iurii Mykailhov, Präsident der ukrainischen Agrarjournalisten und Mitglied im Exekutivkomitee der IFAJ, die Situation der Landwirtschaft und des Journalismus in seinem Land. Die Fragen stellte Katharina Seuser.

 

Welche Rolle spielt die Landwirtschaft in der Ukraine?

Die wirtschaftliche Bedeutung der Landwirtschaft nimmt derzeit zu. Nach den verfügbaren Informationen beträgt ihr Anteil an der Gesamtwertschöpfung etwa 10 Prozent und der Anteil der Agrarexporte an den Gesamtexporten beläuft sich auf 30 Prozent. Wenn die Ergebnisse für 2014 vorliegen, wird sich zeigen, dass die Bedeutung der Landwirtschaft wegen des Zusammenbruchs der Hüttenindustrie, der Kohle- und Chemieindustrie im Südosten der Ukraine stark zugenommen hat. Die wichtigsten Exportgüter sind Sonnenblumenöl (21,3 Prozent der Agrarexporte), Mais (20 %), Mühlenprodukte und Futterweizen (14 %) sowie Raps (5%). Vor 2014 gab es nennenswerte Exporte von Fleisch- und Milchprodukten nach Russland, die jetzt vollkommen zum Erliegen gekommen sind.

 

Welche Auswirkungen hat der Krieg auf die Landwirtschaft?

Die Annexion der Krim und die russische Invasion im Südosten der Ukraine hat bereits zu einem Verlust von rund zehn Prozent der Anbauflächen geführt. Höchstwahrscheinlich wird es in diesen Regionen dieses Jahr keine Aussaat geben: In der Krim wird die notwendigen Wasserversorgung fehlen und in den umkämpften Regionen kann das Land nicht bestellt werden. Die Infrastruktur und viele Industrieanlagen im Donbass sind ruiniert, zum Beispiel die große Sonnenblumenöl-Raffinerie von Cargill in Donetsk.

Selbst wenn die Ukraine eine militärische Invasion Russlands und einen Konkurs verhindern kann, wird die Wirtschaft, insbesondere die Landwirtschaft, stark leiden. Im vergangenen Jahr wurde die ukrainische Währung im Vergleich mit dem US Dollar um das 2,5-Fache abgewertet. Vor einem Jahr war ein US-Dollar 8 Hrywnas wert, jetzt beträgt der Wechselkurs 1:21. Die Zinsen sind auf 30 Prozent und mehr gestiegen, was Kredite so gut wie unmöglich macht.

 

Wie werden sich die Exporte voraussichtlich entwickeln?

Die Ausweitung des Konflikts wird sich mit großer Sicherheit negativ auf die Landwirtschaft und den Export auswirken. Höchstwahrscheinlich wird es kaum noch nennenswerte Exporte von Fleisch- und Milchprodukten geben; die Getreide und Ölsaatenexporte werden drastisch zurückgehen. Befürchtet wird, dass Russland in den Süden einmarschiert, um den Korridor vom Osten der Ukraine  zur Krim und nach Transnistrien abzuschneiden. In diesem Fall würde die Ukraine alle Häfen im Schwarzen Meer verlieren und das wäre das Aus für unsere Wirtschaft.

 

Unter welchen Bedingungen arbeiten Journalisten in der Ukraine?

Meiner Meinung nach herrscht in der Ukraine totale Pressefreiheit: Sogar Medien, die von unserem Feind Russland finanziert werden, können ungestört arbeiten. Jeder kann seine Meinung äußern, ohne dafür belangt zu werden. Kritische Stimmen führen allerdings nicht zum Umdenken bei den Mächtigen. Die einzige Reaktion ist oft: „Hört mit der Kritik auf, so lange wir uns im Kriegszustand befinden.“ Wer auf der Krim und im Südosten lebt und über Militäraktionen berichtet, ist natürlich in Lebensgefahr.

 

Wer berichtet zur Zeit aus dem Südosten der Ukraine?

Es gibt eine große Zahl pro-ukrainischer Journalisten, die undercover berichten und das Internet und Social Media nutzen. Manchmal gibt es allerdings Zweifel an der Zuverlässigkeit solcher Informationen. Und dann gibt es viele, die den ukrainischen Präsidenten, den Verteidigungsminister und den Generalstab scharf kritisieren, dass es zu diesem Konflikt kommen konnte.

 

Was können Europa und die Welt tun, um diesen Konflikt zu lösen?

Meiner Meinung nach müssten die Strategie der Sanktionen gegen Russland verschärft werden und zugleich müssten die ukrainischen Machthaber gezwungen werden, mit der Umsetzung der notwendigen Reformen zu beginnen. Die Ukraine benötigt dringend Kredite ausländischer Geldgeber. Ohne sie wird das Land zahlungsunfähig. Allerdings sollten die Geldgeber die Verwendung der Kredite überprüfen.

 

Was können Journalisten und Agrarjournalisten leisten?

Das Wichtigste wäre es, die westlichen Gesellschaften davon zu überzeugen, dass ihre Zukunft entscheidend von der Befriedung der Ukraine und der Beruhigung Russland abhängt. Journalisten sollten nicht müde werden, der russischen Propaganda zu widersprechen und zu wiederholen, dass die Ukrainer keine Faschisten, Nazis und Rassisten sind. Die Ukrainer fühlen sich Europa zugehörig und kämpfen für ihre Freiheit. Und lasst Journalisten enge Kontakte mit den ukrainischen Journalisten knüpfen, um Informationen auszutauschen. Das wäre fürs Erste ausreichend.

Die Situation in der Ukraine (Iuri Mykhailov)

Bald ist ein Jahr her, dass Russland die Krim annektierte und die Separatisten-Aktionen im Südosten provozierte, die mittlerweile faktisch zum Krieg zwischen der Ukraine und Russland geführt hat (faktisch, nicht juristisch). Momentan (Anm. der Redaktion: Das Interview wurde Ende Januar geführt) droht der militärische Konflikt nach einigen ruhigen Monaten zu einem regelrechten Krieg mit Einmarsch russischer Truppen zu eskalieren.  Die Auswirkungen wären desaströs,  nicht nur für die Kriegsparteien, sondern für die ganze Welt.

Schon jetzt übersteigt die Zahl der Flüchtlinge aus Krim und Donbass eine Million. Mehrere Zehntausend Flüchtlinge haben in den EU-Nachbarländer Polen, Slowakei und Rumänien um Aufnahme gebeten. Sollte der Konflikt weiter eskalieren, wird eine Welle von Flüchtlingen auf Nachbarländer, insbesondere aber auf die EU zukommen, die die Zahl der Flüchtlinge während des Balkankrieges und des Auseinanderbrechens von Jugoslawien um ein Vielfaches übertreffen dürfte. Es sei daran erinnert, dass eine Reihe von EU-Ländern, Moldawien, Serbien, Albanien und Montenegro, Visa-Freiheit mit der Ukraine vereinbart haben. Darüber hinaus gilt Visa-Freiheit für Ukrainer in der Türkei, Israel, Argentinien, Brasilien und Honduras.

Selbst wenn der Konflikt nicht militärisch eskalieren sollte, kann der Kollaps der ukrainischen Wirtschaft zu einer Auswanderungswelle führen. Zur Zeit gibt es einen regelrechten Wettstreit darum, wer zuerst bankrott geht: die ukrainische oder die russische Wirtschaft.

Die Ukraine steht kurz vor dem Zusammenbruch. In den nächsten Monaten müssen Schulden in Höhe von 11 Milliarden Dollar beglichen werden. Der Staatshaushalt verfügt momentan über 7,5 Mrd. Dollar. Wenn es der Ukraine nicht in naher Zukunft gelingt, die mit den großen Kreditgebern (IMF, World Bank, private Ausgleichsfonds wie American Franklin Templeton, Russland etc.) eine Umschuldung zu vereinbaren, wird die Ukraine Konkurs gehen. Dies kann wiederum zu katastrophalen Konsequenzen wie soziale Revolten und Auseinanderfallen der Ukraine in mehrere Territorien führen. Dies würde wiederum eine militärische Intervention Russlands begünstigen, die damit begründet würde, „Chaos im Herzen Europas“ abzuwenden. Die Folgen wären wiederum ein Blutvergießen und eine Flüchtlingswelle.

Selbst wenn die Ukraine eine militärische Invasion Russlands und einen Konkurs verhindern kann, wird die Wirtschaft, insbesondere die Landwirtschaft, das Jahr kaum überstehen. Im vergangenen Jahr wurde die ukrainische Währung im Vergleich mit dem US Dollar um das 2,5-Fache abgewertet. Vor einem Jahr war ein US-Dollar 8 Hrywnas wert, jetzt beträgt der Wechselkurs 1:21. Die Zinsen sind auf 30 Prozent und mehr gestiegen, was Kredite so gut wie unmöglich macht.

Ein Großteil der ukrainischen Betriebsmittel wird importiert: Saatgut (Mais, Sojabohnen, Sonnenblumen), Pflanzenschutzmittel, Dünger, Kraftstoff, Landmaschinen, Ersatzteile und Ausrüstung. Obwohl die Ölpreise gefallen sind, sind die Preise für Benzin und Diesel durch die Abwertung der ukrainischen Währung gleich teuer geblieben. Die heimische Saatguterzeugung ist zu gering, um die Importe zu ersetzen.

Selbst wenn den Getreideerzeugern gelingen sollte, die höheren Preise für Saatgut, Pflanzenschutz und Sprit in den nächsten sechs Monaten aufzubringen, wird der Import von Landmaschinen einbrechen, da Kredite mittel- und langfristig unmöglich sein werden. Dennoch sind Getreideerzeuger  im Vergleich mit anderen Wirtschaftszweigen, insbesondere mit der Tierhaltung, noch in einer günstigeren Lage. Da die Ukraine ein wichtiger Getreideexporteur ist, bietet eine Reihe ausländischer Verarbeiter und Betriebsmittellieferanten den Getreideerzeugern Bartergeschäfte an.

Dennoch wird die diesjährige Getreideernte kaum an die 63 Millionen Tonnen des vergangenen Jahres heranreichen.  Voraussichtlich werden 2015 in der Ukraine nicht mehr als 40  Millionen Tonnen geerntet. Die Getreideexporte – insbesondere nach Spanien, Italien, Nordafrika, den Mittleren Osten und Ostasien (China, Japan, Korea) würden zurückgehen.

Die ukrainischen Tierhaltungen sehen sehr schwierigen Zeiten entgegen. Sie werden gezwungen sein, Futtermittel zu überhöhten Preisen zu kaufen, während die Exportmöglichkeiten eingeschränkt sind; insbesondere die Exporte nach Russland. Da die Kaufkraft in der Ukraine zurückgeht, können die Tierhalter auf dem heimischen Markt nicht die erforderlichen Preise erzielen und viel von ihnen werden bankrott gehen.

Alle diese Probleme werden durch das große Ausmaß an Korruption in der ukrainischen Justiz und Strafverfolgung verstärkt. Und selbst wenn die Ukraine und ihre Wirtschaft die nächsten Jahre überleben werden, wird die Bedrohung durch einen Kollaps der Atommacht Russlands bestehen bleiben. Der einzige Ausweg ist es, Russland zur Räumung der Ostukraine und  der Krim und zur Auseinandersetzung mit den eigenen Problemen zu bewegen. Meiner Meinung nach müssen die Weltmächte auf Russland Druck ausüben. Dennoch bin ich eher skeptisch, dass Russland mit dem ehemaligen KGB-Offizier Putin als Präsident und seiner Führungsriege (die sich ebenfalls aus ehemaligen KGB-Offizieren zusammensetzt) eine Chance hat.

 

Struktur der Landwirtschaft in der Ukraine

Ackerbau wird überwiegend von sehr großen landwirtschaftlichen Unternehmen betrieben, die im Besitz von wenigen ukrainischen Oligarchen sind. Die Betriebsgrößen reichen von 10.000 bis 1 Million Hektar. Dagegen werden die meisten  tierischen Produkte und Gemüse nach offiziellen Statistiken von sehr kleinen Betrieben erzeugt. Rund 30 Prozent der Ukrainer, also 15 Millionen, leben auf dem Land. Die meisten sind sehr arm, weil nur etwa 600.000 für die Agrarunternehmen arbeiten und die anderen mehr oder weniger Subsistenzwirtschaft betreiben. Die Infrastruktur, Straßen, Energieversorgung, Öffentlicher Transport und die Versorgung sind in katastrophalem Zustand. Das durchschnittliche Monatseinkommen der Landbevölkerung beträgt zur Zeit 100 Euro. Ohne Ausbildung haben die Menschen keine Möglichkeit, in den urbanen Zentren Arbeit zu finden und ihre Lebenssituation zu verbessern. JM

Bildunterschrift:
Iurii Mykailhov berichtete in Berlin über die Situation in der Ukraine.
Foto: Werblow